Ballast der Republik.
Weil es auch nach der Stunde Null weiterging.
„Wenn ich schon da gewusst hätte, bald zu sterben; ich hätte mich nach Abpfiff von der Tribüne gestürzt“ Diese tragischen Worte erreichten mich einige Wochen nach dem Lübeck Spiel. Mein Freund Peter hatte gerade erfahren, unheilbar an Krebs erkrankt zu sein. Während er diese Worte relativ gelassen in unserer Küche sprach, um direkt wieder auf sein Lieblingsthema Rot-Weiss Essen zu kommen, zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Um dann zu reagieren, wie ich es einige Wochen zuvor nicht konnte: „Laber nicht, wir kriegen das hin“.
Eine blödere Reaktion gibt es wohl kaum auf solche tragischen Worte, aber ich meinte tatsächlich ihn. Den RWE konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr meinen. Was also war passiert? Was meinen wir heute mit dem „Lübeck Spiel“? Es war schwülwarm diesem Samstag, den 31. Mai 2008. Eine Woche zuvor hatte der RWE in Magdeburg gewonnen. Unerwartet, zudem von Tausenden Fans ohne Unterlass unterstützt. Die Qualifikation für das neue Baby des DFB namens Dritte Bundesliga war wieder möglich, der zweite Abstieg hintereinander schien noch vermeidbar. Ein lächerlicher Punkt, es musste nun nur noch ein lächerlicher Punkt her, dazu noch gegen den schon abgestiegenen VfB Lübeck. „Läuft“, so der Tenor rund um die Hafenstraße.
Gronau, Westfalen: Nach dem Frühdienst, diesmal zu zweit, wurden wir direkt von Peter aufgegabelt, der seinerseits bei der Arbeit hat alles stehen und liegen gelassen, nur um schnell an die Hafenstraße zu gelangen. Die gemeinsamen Fahrten gestalteten sich meistens so, dass Peter immer ziemlich viel loswerden musste und erst kurz vor Bottrop fragte: „Und, bei Dir/ Euch?“ Das Thema Karten blieb zumeist außen vor. Hatten wir diese meistens schon im Vorfeld organisiert und ausverkauft war auch schon lange nicht mehr. Der die Karten zahlt, zahlt keinen Sprit und umgekehrt.
Es kam nun kurz hinter Bottrop zu einem weiteren, fast schon legendären Dialog: „Hast Du die Karten?“ „Nein, Du?“ „Oh, dann haben wir ein Problem, ich auch nicht“ „Ja, ich glaube das haben wir“. Schuldzuweisungen waren jetzt fehl am Platz, der Weg war das Ziel, es sollte schließlich voll werden im Georg- Melches Stadion. Spätestens zu erkennen daran, wie viele Fahrzeuge schon auf der geheimen und natürlich allen bekannten Parkmöglichkeit „Welkerhude“ abgestellt wurden. Viele, es waren viele! Das anschließende Anstehen in der Mittagssonne vermittelte ein Gefühl, wie es sich im sogenannten Glutofen anfühlen könnte.
Zu zweit standen nun mein anderer Freund und ich an jeweils einem anderen Kassenhäuschen an, während Peter auf dem Vorplatz der Osttribüne wie ein Tiger im Käfig hin und herlief; uns via Handy zu koordinieren versuchte. Endlich, nach gefühlten, ebenfalls endlos dauernden Minuten wurden noch Karten an eines der Kassenhäuschen geliefert. Der RWE Countdown näherte sich dem Ende. Bereit, dem nahenden Anpfiff Platz zu machen. Die Luft surrte; alles und alle war und waren zum Zerreissen angespannt. Eine unwirkliche Atmosphäre hier und heute, ein Gemisch aus Anspannung, Schweiss und Alkohol auf den Tribünen. Die Lockerheit und der Optimismus nach Magdeburg hat es nicht unter die Hitzeglocke Georg-Melches Stadion geschafft.
Geschafft aber hatten wir wenigstens das Existenzielle an diesem Tag: Dreimal Stehplatz „Nord“. Das diese schon prall gefüllt war, als wir endlich in unser Wohnzimmer konnten, dürfte klar sein. Zum einen lief das Spiel schon und zum anderen waren 18.027 Fans im GMS zugegen. Der RWE begann eigentlich recht furios und rannte immer wieder an, darum nicht! Aber, rückblickend betrachtet wussten wir schon nach einigen Minuten im Stadion: Das Ding hier und heute, das geht in die Hose.
Inwieweit vertragliche Gründe einiger Spieler dazu beitrugen, im Kopf und Trikot schon bald woanders aufzulaufen, vermag ich nicht zu beweisen. Aber die Spielerwechsel nach dem Super GAU Abstieg sprachen allesamt für sich. Der Klassenerhalt und somit eine weitere Saison an der Hafenstraße war von einigen Helden in Stutzen nicht erwünscht. Je länger das Spiel andauerte, umso klarer wurde das allen die es nicht mit den Gästen von der Lohmühle hielten. Und das waren prinzipiell fast alle im Stadion. Schon ein Jahr zuvor bettelte der RWE im letzten Heimspiel der Saison (Wacker Burghausen, 1:1), förmlich um das Gegentor. Und doch war seinerzeit fast alles anders. Wurde in der zweiten Halbzeit gegen Wacker auch zu tief gestanden, anstatt mutig offensiv zu agieren, stimmte trotzdem der Kampf; die Leidenschaft. Für den Verein und den Klassenerhalt.
Das gab es an diesem Samstag nicht. Die locker aufspielenden Lübecker hatten ja nichts mehr zu verlieren und fanden somit immer mehr in das Spiel hinein, kontrollierten es, bekamen Chancen. Hatten Spaß. Es war die 88. Spielminute; die tausende von Fans trotz der Hitze eiskalt erwischte: Der VfB Lübeck ging mit 1:0 in Führung. Das Ende ist bekannt, kein Ausgleich mehr. Abstieg! Die Sicherungen brannten nun gleich reihenweise durch. Die Kombination aus Trauer, Wut, Alkohol und Temperatur liess Zäune überwinden. Sinnlose Jagdszenen auf dem Rasen. Es dauerte lange Minuten, bis die Polizei die Situation unter Kontrolle hatte. Fassungslos diejenigen, die auf den Tribünen stehen und mit ihrem Abstiegsschicksal alleine gelassen wurden.
Gestandene Männer lagen sich in den Armen, weinten hemmungslos. Suchten Trost bei ihren Frauen. Leere Blicke. Wüste Beschimpfungen. Nichts und niemand konnte in diesen Stunden nach Abpfiff an der Hafenstraße Trost spenden. Die Fans litten, während der Söldner seinen Spind räumte und klammheimlich von dannen fuhr. Richtung nächster Verein. Wir waren zu apathisch, das Stadion zu verlassen. Erst als wir dazu aufgefordert wurden, verliessen wir die „Nord“, über die teilweise verwüstete „Ost“ Richtung Stadionkneipe. Umgeknickte Zäune, Reste der Choreographie, auch hier weinende Fans. Wer noch eine Woche zuvor in Magdeburg war, der wusste schlicht nicht, wie ihm hier und heute geschah. Viertklassig, und das bis zum heutigen Tage.
Die Stadionkneipe übrigens, integriert in die wohl schönste Haupttribüne der Republik, war von außen nicht zu erreichen, ohne an Helmut Rahn vorbeizukommen. Seine Statue zeugte von besseren Tagen. Und von einem Menschen, dem ich mich sehr verbunden fühle. Warum auch immer. Er gab uns jedenfalls einen Moment der Ruhe und Zeit für ein Foto. Betrachte ich es heute, sehe ich Peter, Helmut und mich. Eine Statue, zwei Fans mit traurigen Blicken; unwissend, dass in einem von ihnen schon der Krebs wütet. Die Stadionkneipe, dieser rauchgeschwängerte VIP Raum des kleinen Mannes, war an diesem Tag natürlich auch nicht dazu angetan, die Stimmung aufzuhellen. Zudem trauerten Mitglieder der „Crazy Boys“ noch um einen der ihren. Es war einfach alles nur noch zum heulen.
Fußball kann so weh tun, lebt man ihn als Fan. Fußball kann aber auch so schön sein, ist man selbst in tiefster Enttäuschung doch niemals alleine. Die Hundertdreißig Kilometer Heimfahrt lassen natürlich immer viele Emotionen zu, doch kann ich mich daran erinnern, dass es eine ungewöhnlich ruhige Heimfahrt war. Zuhause angekommen, bat mich Peter noch auf ein „Terrassenbier“ bleiben zu dürfen. Er konnte so einfach nicht weiter nach Hause. Wollte gar in den Arm genommen werden. Ein Mann, der auch schon manch dritte Halbzeit erlebt hat. Dieser Tag war einfach zu viel für den Fan, der es mit Rot-Weiss Essen hielt. Es war die Stunde Null. Aber es ging trotzdem weiter. Leider nur für den RWE. Einige Wochen später bekam Peter seine Diagnose: Speiseröhrenkrebs. Unheilbar. Aber zu Beginn der neuen Saison waren wir trotzdem wieder im Stadion. Es war seine letzte Saison.