Fegefeuer!
Dienstag Abend, 21.00 Uhr: Halbzeitpfiff, gellendes Pfeifkonzert. Einige Tausend am Bildschirm mögen sich verwundert gefragt haben, ob hier wirklich von der Hafenstraße in Essen gesendet wird. Der Mythos zeigt sich doch schließlich immer von seiner besten Seite. Schon weit vor dem Anpfiff herrschte rund um das Stadion eine Ruhe und Atmosphäre, die eher an Beerdigung denn an Fußball erinnerte. Die Stimmung glich einem unliebsamen Pflichttermin denn einer Herzensangelegenheit.
Der Gästeblock dagegen gut aufgelegt und erstaunlich gut gefüllt. Die heilige Gertrud als Schutzpatronin aller Wattenscheider/innen hatte viele ihrer Schutzbefohlenen in das nahe Essen beordert. Einmal mehr war dem RWE die Unsicherheit anzumerken, das Abwehrverhalten wenig souverän. Gut zu beobachten aber die Hilfestellung durch den arg kritisierten Trainer. Es wird gesehen, was auf dem Feld passiert. Genützt hat es wenig, einmal mehr Probleme in der Abstimmung bedingen dieses 0:1 zur Pause. Es folgten noch drei weitere Tore und ergaben unter dem Strich ein Endergebnis von 2:2.
Zu diesem Zeitpunkt schon längst geschockt auf der Autobahn lag gedanklich der ganze Verein in Trümmern, galt gefühlt das Prinzip „Alle gegen Alle“. Hatten wir nun dafür gekämpft ? Haben wir nun dafür immer wieder gesungen, dass uns die Ligazugehörigkeit egal sei, um nun auf den Tribünen gegeneinander zu pöbeln? Die einen für und die anderen gegen den Trainer ? Haben wir immer wieder dafür gekämpft, dass dieser wunderbare Verein weiter existiert, nur um eines Tages eigene Tore geradezu mit sträflicher Verachtung zu belegen ?
Haben wir ein Miteinander und eine Transparenz, wie kaum in einem anderen Verein, nur um jetzt übereinander herzufallen ? Die Presse in den ersten beiden Tagen nach dem Spiel zeugte von der Fassungslosigkeit allerorten und berichtete zu wenig von einem schlechten Spiel und zuviel von der schlechten Stimmung. Man selber sitzt vor der Tastatur und überlegt, was es zu schreiben gilt, denn nicht schreiben ist feige.
Das Spiel der ersten Halbzeit kann aber nicht schön geredet werden. Das Verhalten auf den Tribünen aber auch nicht. Die eigene Flucht zur Halbzeit wohl am allerwenigsten. Mein RWE war zerstört. Für den Moment. Agonie, Trauer und Wut. Und heute dann ein offener Brief, welcher von einem Treffen zeugte. Einem Treffen, welches dann vielleicht doch wieder von einem Miteinander zeugt und den Unterschied zu anderen Vereinen ausmacht.
Als Ergebnis dieses Treffens gibt es keine Stellungnahme, sondern einen offenen Brief der Ultras Essen. Eine als Versuch deklarierte Zustandsbeschreibung, die sehr gelungen ein Spiegelbild der aktuellen Situation wiedergibt und sich textlich wohltuend abhebt von einer eben dieser vielen Stellungnahmen. Ein Versuch, welcher damit aufräumt, elitärer zu sein als wir anderen und eines zeigt: Wir sind alle RWE. Und diese Kuh ist momentan die dämlichste, die es jemals galt, vom Eis zu holen.
Anbei der selbst deklarierte gelungene „Versuch“ von UE:
„..Die größte Enttäuschung direkt zu Anfang: es kommt keine aalglatte Stellungnahme! Vielleicht ein offener Brief, aber keine Erklärung und schon gar keine Rechtfertigung. Vielleicht einfach nur ein Versuch, bestimmt für die, die es verstehen wollen oder es zumindest versuchen – aber auf jeden Fall für die, die es verdient haben – alle anderen werden wir nur enttäuschen…
Was war…
Wir wollen nicht bei Adam und Eva anfangen. Nicht bei 1907 und nicht bei 2002. Wir setzen bei der Insolvenz an.
Es ist der Zeitpunkt, wo uns allen wieder klar wurde, wie schnell so etwas Einzigartiges vorbei sein kann. Wir waren froh, dass es weiter ging und waren umso überraschter und glücklicher, als es in der ersten Saison nach der Insolvenz direkt eine Liga höher ging.
Der Aufstieg aus der NRW-Liga war ein Erfolg aller Parteien. Man hatte – wie lang, oder vielleicht nie zuvor – das Gefühl, dass alle an einem Strang zogen und so etwas geschaffen, was so niemand erwarten konnte… und vor allem: niemand erwartet hat!
Trainer raus?!
Zeitsprung: etwas später… neues Stadion… eine Liga höher… Erwartungshaltung! Man muss sich dessen bewusst sein, dass in Essen eine gewisse Erwartungshaltung herrscht. Das war so, das ist so, das bleibt so. Keiner will in Liga 4 spielen. Am besten schon heute. Aufsteigen, sofort! Weg von den Dörfern und den Bezirkssportanlagen. Rein in die großen Stadien, zu den großen Vereinen, nicht deren Amateure auf dem Trainingsplatz neben den großen Stadien.
Man hatte nun etwas, was man in der NRW-Liga nicht hatte: Erwartungen! Und dann kam noch etwas hinzu, was man nicht hatte: Misserfolg! Die Niederlage im Pokal drückt noch nach. Auch Niederlagen wie die gegen Gladbach II und Hüls tun noch weh. So etwas gab es in der NRW-Liga nicht. Da haben wir nicht alles gewonnen, aber waren unterm Strich Meister und Pokalsieger.
Und dann nun wieder diese Erwartung, dass wir doch endlich die unteren Ligen verlassen, um wieder im Profifußball spielen zu können. Das alles passte irgendwie nicht zusammen und kam am letzten Dienstag raus. Es war das vielleicht bekannte Aufstauen und Ausbrechen, was man Dienstag beobachten konnte.
Nach drei Tagen sieht man das alles wieder etwas nüchterner. Es gab auch etwas in der Zwischenzeit, was es lang nicht mehr gab: Einen runden Tisch mit Vereinsvertretern, Spielern, sportlicher Leitung, Fanprojekt, FFA, Fanbeauftragten, Fanclubs und der Ultraszene.
Das Treffen sollte bewusst klein gehalten und ergebnisoffen gestaltet werden, allein schon um nicht noch mehr Druck zur derzeitigen Situation aufzubauen und allen Seiten eine Chance der Annäherung bieten zu können. Dies ist erfolgt. Zumindest hat man etwas geschafft, was in Zeiten von Facebook & Co kaum mehr passiert. Man saß mehrere Stunden zusammen, stritt, lachte, überlegte und ging mit einem Handschlag in die Nacht.
Das wichtigste daran war aber, dass wohl alle Seiten etwas mehr Verständnis für das jeweilige Gegenüber gewinnen konnten. Fans können verstehen, was im Trainer vorgeht, Spieler verstehen, was im Publikum vorgeht. Ändern an der Gesamtsituation wird es nichts. Der Tabellenplatz hat sich nicht verändert und auch das nächste Spiel wird wohl nicht dadurch beeinflusst, aber darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass wir als Verein nur gemeinsam gewinnen oder verlieren. So wie wir gemeinsam in der NRW-Liga aufgestiegen sind. Da bringt es nichts, sich gegenseitig an die Karre zu pissen, ganz im Gegenteil…
Ultras raus!?
Wenn es knallt, dann richtig. Das sind wir gewohnt. Als Gruppe seit 12 Jahren, als Essener schon immer. Die Hafenstraße ist anders und hier in wenigen Worten nicht zu erklären. Früher war es noch mal anders, vielleicht auch noch heftiger, aber selbst Dienstag war wie sonst wohl nirgends.
Dass bei Toren nicht gejubelt, sondern der Kopf des Trainers gefordert wird und selbst bei einer Nicht-Niederlage gepfiffen wird als ob es kein Morgen gibt, das war neu. Klar, dass die Leute da reagieren. Klar auch, dass in solchen Momenten keine Selbstreflexion stattfinden kann und jeder erstmal emotional reagiert, wie es aus einem herausplatzt. Es war ein Szenario welches nicht nur durch die Ultraszene entstand, denn auf der Haupt- und Rahntribüne sitzt keiner von uns. Es war ein Szenario, welches sich durchs komplette Stadion zog – auch weite Teile der Westtribüne waren beteiligt. Wer nicht den Trainer raus haben wollte, wollte uns raus haben. Klar, wir sind angreifbar weil die größte – in Zahl und Präsenz – Gruppe im Stadion. Das kennen wir und nehmen diesen Spießrutenlauf seit 12 Jahren auf uns. Bei Choreos sind wir die tollen erwachsenen RWE-Fans, die alles für den Verein geben, an Tagen wie Dienstag dann wieder kindische, besoffene Selbstdarsteller, denen es nur um Randale geht.
Wir können das ab und halten mittlerweile gern auch noch die andere Seite hin, wenn es sein muss, um die Situation zu entspannen. Was uns aber auch beim genannten Gespräch wieder bewusst geworden ist, ist einfach die Tatsache, dass solche Sachen doch irgendwo sitzen und hängen bleiben, so cool und professionell man auch sein mag. Das gilt für uns, aber auch für die, die auf dem Platz stehen. Und das ist das – neben dem kleinsten gemeinsamen Nenner namens RWE -, was uns wieder zusammenschweißen sollte.
Was in diesem Kontext klar wird – und menschlich auch vorher klar sein sollte, aber noch mal deutlichen Wortes bedarf – ist die Tatsache, dass es nicht sein kann, dass unsere Spieler angespuckt und beleidigt werden. Es gibt Sachen, die muss man beim Fußball abkönnen und es gibt Sachen, die gehören sich nicht. Das gilt eben auch für uns…
Was kommt…
Wir sehen uns nach wie vor als Teil des Ganzen. Nicht als Nabel der Welt und erst Recht nicht als Diktator der Kurve, deshalb ist das, was jetzt kommt, nur auf unsere Gruppe bezogen und soll als Info an den Rest der rot-weissen Gemeinschaft gehen. Und ja, wir wissen, dass es bei dem ein oder anderen nicht ankommt und / oder man es missverstehen will…
Solche Abende wie Dienstag und auch solche Gespräche wie Donnerstagabend müssen erstmal sacken. Die Leute, die schon länger an die Hafenstraße gehen, werden solche Situationen kennen, auch noch heftiger, trotzdem ist es immer wieder eine neue Herausforderung…
Wir wollen aus der ganzen Situation bewusst etwas Druck raus nehmen und werden das Spiel am Samstag nicht als Gruppe besuchen, damit sich jeder wieder auf das Wesentliche besinnen kann. Wir schreiben keinem – auch nicht unseren Mitgliedern – vor, wie er sich zu verhalten hat und gehen genau deshalb davon aus, dass eben doch einige Essener vor Ort sein werden, eben auch Leute aus unserer Gruppe. Diejenigen, die vor Ort sein werden, werden eben mal ohne Megaphon und Trommel anwesend sein. Es wird keinen organisierten Support geben, doch man kann davon ausgehen, dass die anwesenden Leute den Verein in ordentlichen Bahnen repräsentieren werden und vor allem aber auch ein Zeichen in Richtung Mannschaft und sportlicher Leitung geben wollen. Denn eins ist klar, nächsten Mittwoch sehen wir uns alle wieder und wollen uns in die Augen schauen können…
Gleichzeitig soll es aber auch ein Zeichen sein, dass wir uns nicht vor den Karren spannen und als Sündenbock aufstellen lassen. Wenn man diverse Presseberichte und den typischen Internetpöbel liest, kann man ja nur noch den Kopf schütteln… als ob wir den Leuten verbieten, sich bei einem Tor zu freuen. Können und wollen wir doch auch gar nicht. Auch haben wir niemanden daran gehindert, die Mannschaft weiter zu unterstützen oder auf die Pöbeleien mit Support zu reagieren. Was sich Dienstag abspielte, war eine Reaktion der gesamten Tribüne und nicht nur von uns. Aber auch das kennen wir seit 12 Jahren, wenn alles doof ist, sind die Ultras Schuld – man braucht für alles halt einen Blöden…
Wie gesagt, Mittwoch sehen wir uns alle wieder und ziehen hoffentlich spätestens dann wieder alle an einem Strang. Wir haben für uns ganz klar entschieden, dass wir weder pfeifen, noch den Kopf des Trainers fordern werden. Wir werden singen, mal leiser, mal lauter. Wenn es 0:3 gegen uns steht, vielleicht auch nicht mehr, aber wir werden nicht meckern und pöbeln, zumindest nicht gegen unsere eigenen Leute auf dem Platz und der Trainerbank. Es ist nicht das selbsauferlegte Verbot zu kritisieren, ganz im Gegenteil, es kommt nur auf das “wie” an und das betrifft alle Parteien.
Und hier vielleicht noch ein Wort an genau die Letztgenannten: geht raus mit breiter Brust! Seid stolz für diesen besonderen Verein spielen zu dürfen und gewinnt Euer Selbstvertrauen mit der einfachen Tatsache, dass hinter Euch immer Leuten stehen werden, die Euch auffangen wenn Ihr fallt, auch wenn es Dienstag vielleicht ganz anders aussah. Ein Verein ist immer das Ganze, wir alle sind ein Teil davon…
Wie gesagt, der Text ist nicht aalglatt und schlicht ein Versuch. Alles andere wird die Zeit und Umsetzung zeigen. Wir sind ansprechbar, morgen und / oder Mittwoch.
Einige sehen sich Samstag…
Wir alle sehen uns Mittwoch…
Wir sind nur als Einheit stark!
Alles fUEr Essen!
Ultras Essen 2002 im September ´13
Hallo Uwe,
manches wird mir von dir aber auch vom Umfeld und von den Verantwortlichen von RWE eindeutig überhöht.
Die Fakten: RWE ist mittlerweile seit mehr als 35 Jahren nicht mehr erstklassig. Die Zeiten von Ente Lippens sind längst vorbei und als Helmut Rahn spielte, war Konrad Adenauer noch Bundeskanzler. Ein Verein, der immer nur an seinen Mythos und seine Vergangenheit erinnert, der vergisst die Gegenwart! Und die Gegenwart ist realistisch betrachtet äußerst trist. 4. Liga und keine Anzeichen auf wesentliche Besserung! Ich bin dem Ruhrgebiet und auch RWE durchaus wohlgesonnen, mir wird der Pathos aber manchmal deutlich übertrieben. Wenn ca 10000 Zuschauer durchschnittlich ins neue Stadion kommen, ist es ein guter Besuch, bedenkt man aber die Einwohnerzahl von Essen, dann relativiert sich doch einiges. Auch die gepflegte Feindschaft mit Schalke 04, ist doch eher einseitig, da sich die Schalke-Fans doch höchstens am Rande für RWE interessieren….noch ein kurzer Einwurf zu Schalke 04: hier wird ja auch gerne das Image des Arbeitervereins benutzt. Die Realität sieht anders aus. Vieles ist nur gespielt und hält der Realität nicht stand. Clemens Tönnies, seines Zeichen Präsident und Fleischfabrikant macht offen Werbung für die Fortsetzung der CDU/FDP-Koalition und hält Mindestlöhne für sozialistisches Teufelszeug. So etwas kotzt mich an und hat mit Arbeiterverein überhaupt nichts zu tun!
Grüße von Bernd
Wann genau macht Tönnies offen Werbung für eine CDU/FDP-Koalition? Meines Wissens, natürlich ist dieses nicht maßgebend, hat die FDP nicht den Einzug in den Bundestag geschafft. Ferner ist es wohl jedermanns ureigene Sache, welche Partei er wählt und ob er für oder gegen einen gesetzlichen Mindestlohn ist. Und der Einwurf, unsere gepflegten Kabbeleien mit dem FC Meineid seien einseitig, kann ich als gebürtiger Essener mit Wohnsitz in Essen leider nicht bestätigen. Vielleicht ist es nicht ausreichend, dem Ruhrgebiet nur „wohlgesonnen“ zu sein. Hier zu leben würde manchem eine neue Perspektive eröffnen. Uwe ist zwar ein Grafschafter, aber er hat die Ruhrgebietsmentalität mehr als verinnerlicht. Und das ist auch gut so.
Tönnies hat in der Vergangenheit und auch aktuell in div. Interviews immer wieder seine Sympathie für Merkel und die sogenannte “ bürgerliche Koalition “ ausgedrückt. Und wer gegen gestzliche Mindestlöhne ist, der kann nicht glaubhaft das Schild eines “ Arbeitervereins “ vor sich hertragen! In diesem Land läuft so einiges daneben! Könnte jetzt hier ein Plädoyer für ein Linksbündnis in Deutschland halten, würde aber auf dieser Seite wohl den Rahmen sprengen… zu RWE: Bitte nicht unter der Käseglocke leben und den Blick für die Realität verlieren, wäre äußerst schade!
Ach so. Ich hörte allerdings, dass es auch Arbeiter gibt die nicht zwanghaft „Links“ wählen. Und entstzt sind, ob einiger hanebüchener Forderungen der „Linkspartei“. Davon ab, es kann doch niemand ernsthaft von einem Arbeiterverein sprechen, wenn dieser in einer Profiliga beheimatet ist. Weder Tönnies, noch ein Fan eines solchen Vereins. Wer das tut, der ist in der Beobachtung und Wahrnehmung des Fußballs in den frühen 90ern stehen geblieben. Käseglocke, ich denke dass dies nicht der Fall ist. Wie schon gesagt, den Ruhrpott „wohlgesonnen“ sein oder in ihm leben, dass sind 2 Paar Schuhe. Auch noch mit verschiedenen Größen.