Stehrümchen

Ich muss gestehen, ich hatte ein wenig Angst, dass das Trikot der englischen Nationalelf, welches sich gerade auf dem Postweg zu mir befindet, erst dann ankommt, wenn die Three Lions schon aus dem Turnier geflogen sind (Ich hätte ja noch genug davon im Schrank, aber die sind komischerweise allesamt eingelaufen). Und es sah ja tatsächlich über weite Strecken danach aus im Spiel gegen die Slowakei . Bis in die Nachspielzeit hinein sogar. Aber dann hat ja das britische Königshaus blitzschnell seine Kontakte bei den asiatischen Sponsoren spielen lassen und dafür gesorgt, dass so lange nachgespielt wird, bis England endlich den Ausgleich erzielen kann. Könnte man fast meinen, steht ja schließlich in manch Kommentarspalte geschrieben. Gelsenkirchen hat somit das zweite Mal eine unerklärlich schlechte Leistung erlebt. Also so wie sonst alle zwei Wochen in der Liga auch.

Als bekanntermaßen großer Sympathisant der Three Lions würde ich mir vielleicht lieber heute als morgen einen Wechsel auf der Trainerbank wünschen. Schnell noch Southgate gegen Kloppo tauschen, und man hätte vielleicht eine realistischere Chance gegen die Eidgenossen. Es ist nicht schön anzuschauen, dieses englische Spiel. Irgendwie so wie Rot-Weiss Essen unter Marc Fascher, Sven Demandt, Jan Sievert und Ernst Middendorp beispielsweise. Vielleicht sogar noch ein bisschen schlimmer. Man müsste ihnen halt nur mit auf das Spielfeld geben, wer was wann wo und wie zu tun hat. Franz Beckenbauer hatte da die so einfache wie geniale Idee mit seinem: „Geht`s raus und spielt Fußball“. So weit so schlecht also. Aber man steht nun doch im Viertelfinale, sehr zum Ärger all derer, die plötzlich ihrer fußballerischen England Abneigung freien Lauf lassen.

Was wiederum komisch ist, denn die Mannschaft von Gareth Southgate spielt doch alle Plattitüden aus, die man schon lange nicht mehr hören kann: Sie wollten es mehr als Slowenien, hatten zum Schluss maximale Mentalität und wer gewinnt hat immer Recht. Habe ich noch was vergessen? Zudem wurden mit ähnlichem Schlafwagenfußball die Griechen um König Otto 2004 und Portugal 2016 Europameister und gebührend gefeiert. Es ist schick geworden, sich wortgewaltig an der englischen Nationalmannschaft abzuarbeiten. So sehr, dass auch 1966 bisweilen wieder aus der Kiste geholt wird. Damals wäre selbst der VAR gerne gesehen. Wir drehen es uns einfach auch immer so, wie man es persönlich gerne hätte. Ist ja auch normal.

Aber vielleicht liegt die aktuell erstaunlich vielfache Antipathie auch daran, dass sich die englischen Fans beispielsweise der temporären Modeerscheinung Fanmarsch entziehen und keine großartigen Bilder auf den Straßen produzieren. Hinter einem LKW herzulaufen, sich dabei von Ballermann Musik zudröhnen zu lassen und dann noch von links nach rechts hüpfen müssen, also dass ist den Lads & Ladys als klassische Stehrümchen einfach zu viel der Bewegung. Und wie soll man dann in Ruhe das Bier trinken können? Die tollen Bilder produzieren sie für mich seit jeher im Stadion, wenn unzählige St.Georges Flaggen fast anarchisch jede freie Ecke im Innenraum zupflastern. Dabei ist es egal, aus welcher Stadt man kommt, und welchem Verein man zugehörig ist: Platz suchen, aufhängen und fertig.

Auch eine dieser spontanen Stadionerlebnisse, die bei uns nicht mehr möglich sind. Hierzulande werden die zur Verfügung stehenden Zaunfahnenplätze vor der „Kurve“ auf den Millimeter genau unter den aktiven Gruppen aufgeteilt. Spontanität ist nicht mehr möglich, der Zaun in Deutschen Stadien sieht im Ligabetrieb einfach jedes Spiel immer gleich aus. Ebenfalls bietet der englische Block in der Totalen nicht das farbliche Element wie beispielsweise die Rumänen, Schotten, Schweizer oder schon erwähnte Niederländer. Wobei man bei den Spielen der rumänischen Nationalmannschaft auch den Eindruck gewinnen konnte, ein Sponsor der EM hat zum Betriebsausflug geladen.

Die Engländer also nicht farblich homogen, aber auf jeden Fall einfach immer schick gekleidet, denn alle wundervollen Trikots der letzten Dekaden sind dort zu finden. Die roten Auswärtstrikots, die weißen legendären Heimlappen oder auch die Ausweichtrikots in anderer Farbgestaltung. Von Umbro über Admiral bis hin zu Nike ist alles vertreten. Viel mit Stil. Draußen gibt es aber natürlich immer noch genug fotogene Bierbäuche und sonnenverbrannte Oberkörper abzulichten. Möglicherweise sehr zum Leidwesen der Boulevardpresse ohne die traditionell fliegenden Stühle vergangener Jahrzehnte. Man kann also nicht mal mehr auf den Ruf der englischen Fans zählen, um Bilder präsentiert zu bekommen, die wenigstens da eine Antipathie rechtfertigen könnte.

Was mich gerade tatsächlich nervt ist das Gehabe von Jude Bellingham auf dem Feld. Hier will ich das schöne Zitat: „Wer meint etwas zu sein, hat aufgehört etwas zu werden“ anbringen. So eine Mimik und Gestik auch den Mitspielern gegenüber geht mir auf den Sack, eine ähnlich gelagerte Geste muss auch nicht sein. Wenn ihm dass alles nicht passt, muss er einfach auch mal ein Spiel auf der Bank schmoren. Dass er gesperrt wird, vermag ich mir trotzdem nicht vorzustellen, Königshaus und asiatische Sponsoren werden das schon regeln. Nein, war ein Scherz. Die regeln beide gar nichts. Weder Nachspielzeiten noch Sperren. Die englischen Fans können sich zwar über das Spiel der eigenen Mannschaft vortrefflich aufregen, aber eines ist ihnen hier, wie in der Heimat vergönnt: Die freie Sicht auf das Spielfeld. Auch das hierzulande als Auswärtsfan leider nicht mehr im Ticket inbegriffen. Und wo ich schon mal dabei bin: Spielbezogene Emotionen sind für mich immer noch die authentischsten. Minuten der quälenden Stille dabei leider sehr oft mit im Stadion vertreten. Aber das kann dann ja jeder für sich selbst ändern.

Vielleicht müsste man im Stadion eine Art „Hybridatmosphäre“ mit dem Besten aus vielen Fankulturen hinbekommen. Aber klar, wird so nicht funktionieren. Also gilt es aktuell bis zum Ende der EM die Stadien ohne Zäune zu genießen. Die farbigen Blöcke und bisweilen grenzwertiger Kopfschmuck anstatt North-Face einheitsschwarz und Sturmhaube in Vereinsfarbe. Dafür nehmen glücklicherweise bald wieder die gewohnten Stadionsprecher das Mikrofon in die Hand und nicht mehr diese UEFA-Showmaster. Auch das Bier ist dann wieder normal zu teuer anstatt komplett von Geldgier getrieben bepreist. Aber ich schweife ab. Diese EM nach den emotionalen Gruselturnieren der jüngeren Vergangenheit macht Spaß. Georgien war das neue Island und Belgien bleibt auch in hundert Jahren einfach immer noch die erfolglose goldene Generation.

Der Ausblick zum Schluss: Wenn es jetzt auch die Schweizer nicht schaffen, die renitenten Engländer aus dem Turnier zu werfen, gibt es im Halbfinale den nächsten Versuch einer anderen Nation, bevor es dann tatsächlich mal wieder zu einem Finale Deutschland gegen England kommen könnte. Ganz großes „Könnte“ wohlgemerkt, denn der Weg für beide Teams ein unglaublich schwerer und weiter. Aber getreu dem Motto „Der bessere möge gewinnen“, würde nach den bisherigen Spielen beider Mannschaften definitiv nicht England Europameister. Man kann das Ganze rund um England also eigentlich doch entspannt betrachten. Aber dafür regen wir Fußballfans uns zu gerne auf und brauchen einfach immer mindestens ein Feindbild. Als Fan von Rot-Weiss Essen kennt man das. Wir müssen auch immer für jeden Nonsens herhalten.

2 Kommentare

  • Avatar von Hanseator

    Auf den Punkt getroffen, danke für den tollen Beitrag. Was ich tatsächlich gern sehen würde, wäre ein englischer „Fanmarsch“, aber ich denke, die Besetzung der Innenstädte und Fußgängerzonen samt Belagerung aller verfügbaren Tresen vor und nach den Spielen kann man vielleicht auch als solchen betrachten. Ich habe das 2016 in Lens bei England-Wales erleben dürfen und bin bis heute tief beindruckt.

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