Emotional Rescue
1980 war ich für einige Wochen in Norwich, England. Eine Sprachreise. Die Freizeit vertrieb man sich in einer Art Schuppen mit zur damaligen Zeit angesagten Spielgeräten und Slot Machines. Ist ja auch egal. Auf jeden Fall gab es dort immer Musik. Wirklich immer. Die Stones brachten zeitgleich eine neue LP namens Emotional Rescue raus. Die erste Singleauskopplung hieß konsequenterweise „Emotional Rescue“. Der Song, der uns fast immer aus dem Spielschuppen zu vertreiben wusste, so gruselig Mick Jagger hier stimmlich unterwegs. Lautstark schimpfend wurde nicht selten von der Fraktion „Mods“ angemerkt, dass neue Bands wie The Police und U2 viel besser seien. Diesen neuen Weg bin ich dann tatsächlich viele Jahrzehnte bis heute mitgegangen.
Warum komme ich gerade jetzt wieder auf diesen schrulligen Titel zurück, habe ihn sogar mehrfach seit Samstag angehört, finde ihn immer noch richtig fürchterlich? Weil Rot-Weiss Essen vergangenen Samstag mit dem Sieg gegen Wismut Aue seine Emotional Rescue für die Saison 2024/25 hatte. Ich weiß, rein rechnerisch und so. Aber manchmal muss man auch die kleinen Zwischenprüfungen feiern, auch wenn das Examen noch aussteht. Und alle Neune binnen einer Woche gegen nacheinander Hansa, Energie und Wismut, das war in der Tat eine emotionale Rettung vom Feinsten. Das man rein rechnerisch immer noch nicht zu 1907% gerettet ist, liegt zum einen an den acht Punkten Abstand zum ersten Abstiegsplatz bei noch fünfzehn zu vergebenen Punkten, aber auch an den anderen Vereinen, denen es genau so geht und die einfach auch wie wir in den Flow gekommen sind. Allen voran die Münchner Löwen oder der VfL Osnabrück.
Was den aktuellen Lauf der Zwoten des BVB angeht, da bekommt man ja fast schon wieder die übliche Krawatte, denn Dortmund macht in den entscheidenden Phasen einer Saison immer Dortmund Dinge und zieht Spieler aus der Ersten runter, um das Saisonziel zu erreichen. Macht endlich Eure eigene Liga auf! So wie auf der Insel, da funktioniert das hervorragend. Aber es waren ja nicht nur die drei Punkte vergangenen Samstag, sondern das ganze Spiel! Überhaupt war das ganze Drumherum von einer Leichtigkeit geprägt, die wir so lange nicht mehr an der Hafenstraße erleben durften. Irgendwas an Druck oder Hansa war ja immer.
Mitentscheidend für die Leichtigkeit am Samstag natürlich der Auswärtssieg unter der Woche im Stadion der Freundschaft zu Cottbus. Unterstützt von roundabout fünfhundert positiv Bekloppten, die den weiten Weg auf sich genommen hatten, waren vor allem die Szenen direkt nach Abpfiff ein Katalysator der guten Laune. Pure Freude. Fast so intensiv wie der Jubel einer Eishockeymannschaft nach gewonnenem Play-Off Halbfinale. Fehlten nur die dort üblichen Wegwerfmaterialien wie Handschuhe, Stöcker und Helme. Es strahlte also vergangenen Samstag nicht nur die Sonne viel zu warm vom Himmel, sondern wurde sich auf den Tribünen fast in Gänze in unser schickes Rot gekleidet. Das macht optisch so viel aus, bringt direkt dieses warme Gefühl von Gemeinsamkeit und Zusammenhalt. Ein viel schönerer Anblick als bei einem Spiel im Funktionsjackennovember, bei dem in unserer zugigen Bude der Schal gar nicht hoch genug gezogen werden kann.
Vielfach vertreten auf allen Tribünen auch die Hommage an unser Meistertrikot. Man munkelt von mindestens 1955 plus x Fans, die mit dem weißen V auf der Brust im Stadion waren. Vor dem Spiel hatte die GMS-Initiative zusammen mit RWE dazu aufgerufen, Pfandbecher nicht zurückzugeben, sondern zu spenden, um die kleine Gruga mit dem Nachbau der Haupttribüne Georg-Melches-Stadion zu vollenden. Auch hier im Nachgang strahlende Gesichter, denn knapp 4.900 Becher kamen zusammen. Aber zurück zum Spiel: Das 4:2 gegen die Wismut war möglicherweise für Fußballperfektionisten kein gutes Fußballspiel. Ich fands geil! Auch dadurch bedingt, dass wir immer in Führung lagen, hat es so die Nerven doch extrem geschont. Die Stimmung war durchgehend klasse, ebenso die lässige Atmosphäre in Block G1. Wir kennen es dort auch anders, je nach Gegner.
Über das Tor von Tom Moustier und seinen anschließenden Jubellauf wurde schon viel geschrieben. Aber darf man seiner Begeisterung über beides noch einmal Nachdruck verleihen? Man darf. So jemanden kann man ja gar nicht erfinden als Kaderplaner. Es sei denn, man hat all das vorausgeahnt, was da für eine menschliche Herzlichkeit gepaart mit fußballerischen Können Rot-Weiss Essen gerade mehr als bereichert. Und was ist mit Lucas Brumme passiert? Alles wieder da, was uns an ihm so erfreut hat. Tiefenläufe, Grätschen und nun sogar Emotionen, die uns aus der Sitzschale reißt. Vielleicht könnte man ihn aber auch noch öfter anspielen, denn seine Seite wirkt oftmals vernachlässigt. Sicher wird auch Lucas Brumme nicht gerne ausgewechselt, aber wenn das passiert, ist sein Weg vom Feld der auf der Seite der Rahn. Und was er allein von dort an stehenden Ovationen abbekommen hat, das war fantastisch mit anzuschauen. Ging jetzt an der West vorbei nicht, denn die stehen ja schon. Hier nur das mit dem Klatschen! Aber auf der Haupt wurde sich direkt wieder erhoben.
Man ey, das nochmal zu erleben, da würde ich direkt verlängern wollen an seiner Stelle. Und wie war das noch mit dem Rios Alonso? Ohne seinen kongenialen Partner Felix Götze überfordert, so noch der Tenor zu Saisonbeginn und wiederkehrend in unseren schweren Phasen der Hinrunde. Und nun ist er die Bank von England auf dem Platz, so sicher das alles. Im Verbund mit Schulle und Opa Pläte ein flotter Dreier da hinten. Und wenn alles mal zu chillig wird, dann haben wir ja noch den Jakob Golz im Tor. Das aber nach dem Spiel Ahmet Arslan auf den Zaun gebeten wurde, dass ist nicht nur die Würdigung einer einmal mehr tadellosen Leistung zuzüglich zweier Tore, sondern auch der Respekt überhaupt vor seiner bisherigen Saison. Bei Ahmo bleibt eigentlich nur eine Frage offen: Was um alles in der Welt bedeutet die Jubelgeste? Unter dem Strich bleibt also festzuhalten: Wir haben eine funktionierende Mannschaft und alle liefern gerade. Jeder auf seine eigene Art. Auf und neben dem Platz.
Und ja, wir hatten auch diese Hinrunde. Man kann jetzt immer wieder darauf herumreiten, oder sich einfach daran freuen, wie es gerade jetzt läuft. Ich mache letzteres. Es nutzt doch auch nichts mehr, verlorenen Punkten hinterher zu trauern. Die bekommen wir niemals wieder. Ich bin vielmehr stolz darauf, wie ein ganzer Verein sich einmal so richtig geschüttelt hat und irgendwie wieder in die Spur gekommen ist. Das ziemlich beeindruckend zudem. Karsamstag nun kann es endlich beschlossene Sache mit dem Klassenerhalt werden. Auch wenn wir in oder gegen Sandhausen bislang nicht gut ausgesehen haben: Unsere Brust hoffentlich mittlerweile so breit, so dass man auch bei einem designierten Absteiger mit völlig verunsicherter Mannschaft bestehen sollte. Zuzüglich dem großen Wunsch, dass auch dem Domi endlich sein erstes Tor für unsere Farben gelingen möge. Dann dürfte ein Knoten platzen, Steine vom Herzen plumpsen und weitere Tore folgen.
Es sieht also alles danach aus, dass diese komplett irre Saison ein wirklich gutes Ende für Rot-Weiss Essen nehmen wird. Das aktuell rein theoretisch sogar noch der Relegationsplatz erreicht werden könnte, wer konnte davon ausgehen, als wir am 19. Januar dieses Jahres tief enttäuscht Aachen verlassen haben. Tabellenplatz Neunzehn inklusive! Mehr Existenzangst als damals verspürt man wohl nur an der Säbener Straße in München, wenn man mal nicht Tabellenerster der Bundesliga ist. Aus dem Tal der stillen Tränen und offener Wut hin zur ausgelassenen Freude nach dem Schlusspfiff vergangenen Samstag: Diesen Roadtrip gilt es nach der Saison noch einmal gesondert aufzuschreiben. Da kann „Auf Achse“ mit Manfred Krug einpacken. Wenn man sich das mal auf der Zunge zergehen lässt: Der RWE spielt noch gegen den 1.FC Saarbrücken, den VfL Osnabrück oder auch den TSV 1860 München. Was für tolle Vereine allesamt. Für solche Spiele sind wir Fußballfans geworden. Dafür nehmen wir so viel in Kauf, leiden über Gebühr und können einfach nicht nachvollziehen, warum möglicherweise kommende Saison ein Spiel gegen die TSG Hoffenheim II ansteht. Wo doch schon deren Erste ein trauriges Einzelschicksal darstellt. Aber letzten Endes entscheidet die sportliche Leistung, und da haben einmal mehr die Offenbacher Kickers den Kürzeren gezogen.
Der OFC: Irgendwie der Bruder im Geiste unseres RWE. Aber wird sind und bleiben oben und so wurde nach dem Erfolg gegen Aue auch vor dem Stadion immer noch viel gesungen. Es war diese schon erwähnt lange nicht mehr erlebte Fröhlichkeit. Tausendfacher Balsam für die Seele. Irgendwann nach entspannter Autobahnfahrt mit Sven Pistor und der Bundesliga am Radio daheim die Tür geöffnet, dröhnte mir Musik entgegen: es war tatsächlich U2 mit „Beautiful Day“. Ja, das war es wirklich. Ein schöner Tag! Und wohl auch der Klassenerhalt. Und wer sich immer fragt, woher meine Leidenschaft für alles Britische stammt: Der findet die Antwort ganz oben im Text. Es war der Sommer von 1980.