Mount Hanoi
Es war ja nicht die erste Besteigung des Gästebereiches am „Mount Hanoi“, aber ziemlich sicher fand sie das erste Mal bei extrem hohen Temperaturen und unter etwas anderen körperlichen Voraussetzungen statt. Frei nach Udo Bölts berühmten „Quäl Dich Du Sau!“ von 1997 konnte der Gipfel am Gästeblock trotzdem erfolgreich bestiegen werden. So manch Rote kamen Rot vor Anstrengung oben an, und hatten das erste Cardio-Training somit schon lange vor Spielbeginn absolviert.
Grundsätzlich ist das Niedersachsenstadion in Hannover aus rot-weißer Sicht immer ein ganz besonderer Ort. Hier hat unser Verein am 26. Juni 1955 das Endspiel der Deutschen Meisterschaft gewonnen und ist seitdem ständiger Deutscher Meister. Andere Interpretationen kommen für uns erst gar nicht in Frage. An jenem 26. Juni waren übrigens 71.600 Zuschauer mehr im Stadion als vergangenen Sonntag, das als kostenloser Service für alle Statistiker. Unwillkürlich richtete sich der Blick dorthin, wo einst Günter Barchfeld, anhand einer Stadionpostkarte und mittels Fingerzeig erklärt bekommen, seinen Stehplatz bei dem Finale innehatte. Ich mag also das Stadion allein schon aus jenem historisch verklärtem Grund, und das es sich trotz Umbau seine Eigenarten bewahrt hat. Tolle Sicht von so ziemlich jedem Platz, ausreichend Umlauf hinter den Blöcken und ein schönes Ambiente drumherum runden das Ganze ab.
Innerhalb des Gästebereiches war man jetzt noch nicht so ganz auf die Gäste vorbereitet, einiges ergab sich erst nach Intervention oder gesundem Menschenverstand. Diese Konzepte, Gästefans scheinbar auf den Quadratzentimeter zu vermessen um ausschließlich danach den Bewegungsspielraum im Stadion festzulegen ist besonders bei Spielen in einem ansonsten gähnend leeren Stadion komplett nervig, unnötig und auch albern. Da gestaltet sich jeder zusätzlich freigegebene Sitzplatz augenscheinlich zu einem bürokratischen Akt, in dessen Verlauf mindestens dreiundzwanzig Hierarchieebenen involviert sind. Vor dem Spiel nun wurden seitens der „Szene“ fleißig Geschenke verteilt, so fühlte es sich an: Aufblasbares, Säckchen voll mit Konfetti, das mit den Fähnchen und so weiter. Es war also an der Zeit für eine sogenannte „Chaoschoreo“. Das rotzige Gegenstück zu den wohlgeplanten opulenten Bilderschauen, bei denen es auf jede hochgehaltene Pappe ankommt. Es wurde zeitnah viel vorbereitet, getreu dem Motto: „Viele Hände, schnelles Ende“ und das Ergebnis konnte sich auch wirklich sehen lassen. Aber hätte man die Raketen nicht einfach weglassen können? Abgesehen davon, dass niemals etwas die Hand gen Spielfeld verlassen sollte: Bei dreißig Grad und gleißender Sonne ohne gegnerische Fans im Stadion zuzüglich absolut fehlender Brisanz? Nicht nachvollziehbar. Aber vielleicht wird das bei eventuellen Nachbesprechungen intern ja nochmal kommuniziert. Fände ich gut.
Ansonsten war das über die gesamte Spielzeit hinweg einfach nur eine großartige Atmosphäre seitens der RWE-Fans. Ja gut, die ersten zwanzig Minuten gab es dann auch zurecht viel zu schimpfen über unser Spiel, da hätten wir uns mehrfach nicht über einen Rückstand beklagen dürfen. Was ich in solch schweren Minuten aber ebenso wenig verstehe, wie besagte Raketen zuvor ist der lautstarke Unmut ganz weniger Fans direkt mit Anpfiff. Das wirkt bisweilen fast einstudiert, getreu dem Motto: Wer am lautesten meckert, der hat immer Recht. Man muss das Gebotene ja nicht gut finden, die Unruhe auf dem Feld hat uns wohl allen Sorge breitet. Aber deshalb gleich Häme auskübeln, als ob unsere Spieler in der vierten Kreisklasse nach durchzechter Nacht unterwegs sind? Ich weiß nicht. Nun hat unsere Mannschaft verdienterweise aus dem notorisch halbleeren Glas dann ja doch noch das Glas halbvoll gemacht und uns allen sowie vor allem sich selbst die ersten drei Punkte der Saison beschert. Unter dem Strich verdient, aber vor allem so unglaublich wichtig für unser aller Gemütszustand. Denn zwei Auftaktniederlagen zuzüglich zu erwartender Klatsche gegen das Konstrukt der kein Verein sein will: Es wäre schwierig geworden, extrem schwierig.
Nun aber dürfen wir den DFB-Pokal als Bonus ansehen und bereiten uns mit dem Spiel kommenden Samstag auf den nächsten Höhepunkt an der Hafenstraße gegen Arminia Bielefeld vor. Gegen so einen richtigen Verein halt, dessen auf und nieder mehr Fußball in all seinen Facetten beinhaltet, als es der Getränkehersteller aus Fuschl am See oder eine Zweitvertretung jemals erreichen werden. Bei wohl keinem anderen Gegner wäre der Kartenvorverkauf so schleppend bis Status „Ausverkauft“ verlaufen wie gegen die Dosen. Selbst bei einem Spiel gegen die Blauen nicht. Ich kann auch jeden verstehen, der vielleicht sein Vorkaufsrecht nicht wahrgenommen hat oder grundsätzlich Spiele gegen einen solchen Gegner boykottiert. Ich war auch einige Zeit im Dialog mit mir selbst, aber dann habe ich mich dafür entschieden, unserer Mannschaft beizustehen. Durch wegbleiben verschwindet RB leider nicht von der fußballerischen Bildfläche. Im Gegenteil, die werden wir wohl nie mehr los. Aber wir können unseren Anteil dazu beitragen, sie sportlich zu besiegen. Und je mehr Siege ein Verein gegen ein solches Konstrukt einfährt, desto mehr nähren sich die Zweifel daran.
Übrigens müssen wir grundsätzlich darauf aufpassen, was auch abseits von RB passiert: Die Frankfurter Eintracht, dieses Kultfurt allerorten, diese Eroberer von Barcelona und so weiter: Eintracht Frankfurt hat für die Saison 22/23 in der Regionalliga Südwest einfach die komplette Infrastruktur nebst Lizenz von Hessen Dreieich übernommen und sich so einen langwierigen Gang durch die Ligen erspart. Und weil es die Statuten des Hessischen Fußballverbandes laut Paragraf 21 gestatten, hat ein weiterer scheinbarere Kultverein wie Darmstadt 98 daraus Profit gezogen, und seine zweite Mannschaft direkt für die aktuelle Saison 24/25 in der Oberliga angemeldet. Diesmal muss dafür allerdings kein eigenständiger Verein weichen: Man hat die Liga einfach auf neunzehn Vereine aufgestockt! Moderner Fußball halt. Wir sollten unseren Fokus des Protestes also nicht nur auf RB richten, sondern immer auch ein waches Auge darauf haben, was sich ein wenig im Fahrwasser dieser auf ewig unrühmlichen Geschichte tut.
Aber nochmal kurz zurück zu vergangenen Sonntag in Hannover: Diese Initialzündung bei unserer Mannschaft, es nicht nur bei dem Gruß und Dank weit unten auf dem Rasen zu belassen, sondern den Unterrang Richtung eigener Fans zu entern, das war schon mal ein Eintrag in das Geschichtsbuch dieser Saison wert. Das war intuitiv ein zu 1907% richtig gewählter Weg, um das Momentum des Erfolges in viele Minuten der Gemeinsamkeit umzuwandeln. Und da die beiden am Megafon eh einen guten Tag hatten, waren auch die Momente nach Abpfiff an sich stimmig. Und wenn dann auch noch Glockenhorst quer über den Umlauf Unterrang angebraust kommt, um tatsächlich temporär sein Heiligtum Glocke abzugeben, ja dann weiß man einfach wieder, warum man jeden Tag stolz darauf ist, diesem eingetragenen Verein anzugehören. Irgendwie sind wir doch alle der Vollhorst von Rot-Weiss Essen.
Was ist eigentlich, wenn es nun nicht die zu erwartende Klatsche wird? Sondern es wieder einen Matchplan geben wird, der es schaffen kann, uns bundesweit zu den Helden der ersten Pokalrunde zu machen? Sind wir überhaupt darauf vorbereitet, dass unsere Low-Budget Truppe diesen Zirkus Maximus bezwingen kann? Also das wäre eine echte Hausnummer 97a. Natürlich wird es die ewig schlecht gelaunten auch dann nicht daran hindern, weiter schlechte Laune zu verbreiten. Aber man stelle sich nur einen ganz kurzen Moment vor, die Sensation könnte gelingen…nur so ganz kurz….und man war dabei, als die Dose gekickt wurde…
Geiler Gedanke, woll?
Das Spiel gegen Bielefeld wird viiiiel schwieriger.