Kompensatorisches Schreiben zur Erstellung einer Leseprobe ohne aktuellen Bezug.
Weil wir tatsächlich einmal Moderne waren, Teil 1.
Je weiter man die Stufen bis unter das Tribünendach erklomm, desto schwerer wurden auch die Beine. Das lag nun nicht an mangelnder körperlicher Konstitution, sondern eher daran, dass die Stufen scheinbar anders ausgelegt waren oder vielleicht doch schon ausgetreten. Es lief sich nie flott hinauf; die in die Jahre gekommene „Haupt“ verlangte den Beinen ganz schön was ab, um nach oben zu kommen. Dort angekommen aber; vielleicht ganz am Rande des „A“- oder alternativ „D-Block“ stehend, den Blick zurück, offenbarte sich folgendes: Eine Sitzplatztribüne, die in ihrer Schönheit, subjektiv betrachtet natürlich, einzigartig war.
Ja, auch Tribünen können schön sein und uns Fans mit ihren Gegebenheiten und Formen betören. Das mag durchaus seltsam anmuten, ist aber so. Die Haupttribüne war nicht gerade, somit prinzipiell auch keine Gerade. Sanft geschwungen kam sie daher. So sanft, dass der Schwung kaum auffiel, stand man relativ mittig auf der Tribüne. Es fiel dann erst so richtig auf, stand man auf einer der beiden äußeren Zugänge zu den schon erwähnten Außenblöcken A oder D und blickte in die Gegenrichtung. Dort stehend bekam auch der Vorplatz seine eigentliche Dimension. In früheren Zeiten gab es dort sogar eine temporäre Vortribüne, die meines Wissens als Block E das Fassungsvermögen des Georg-Melches Stadions erhöhte und somit mehr Fans die Möglichkeit bot, das Spiel und damalige Stars sitzend zu verfolgen. Auf- und Abstiege inklusive!
Alternativ fand auch ein Einsatzwagen der Polizei dort Platz. Wunderbar veranschaulicht in der ebenso wunderbaren WDR Dokumentation älteren Datums „Immer Ärger mit den Jungs aus der Westkurve“ aus dem Jahre 1975. Dank dieser Dokumentation wissen wir übrigens auch: „Wenn wir nach Schalke gehen, kriegen wir die Hucke voll“ und „Wir kamen in Bochum an, was haben wir gekriegt? Dicke Augen!“ Letzteres Statement übrigens von einem Fan, der durchaus Ähnlichkeit mit dem jungen Peter Lohmeyer haben könnte (Der allerdings sein Fußballherz ziemlich unglücklich verlor, wie sicherlich bekannt sein dürfte. Das aber nur nebenbei).
Der Vorplatz hatte auch deshalb viel Platz davor, da maximal und im optimalsten Falle 4.500 Fans von dort ihre Plätze einnahmen, sich verköstigten und während der Pause die Beine ver- und anderes austraten. Dies übrigens in Sanitärräumlichkeiten, die bis zum Abriss nicht viel verändert wurden. Dieser „klorale“ Charme hätte auch keine großartige Renovierung verdient gehabt, weil einzigartig. In der Tat: Die Fans mussten die Tribüne über fünf Treppenaufgänge von unten betreten. Den übliche Zugang zu einer Tribüne namens „Mundloch“ gab es nicht, denn das Innere der Tribüne bestand aus 2.000 Quadratmeter verbautem Raum, verteilt über 3 Stockwerke. Dazu aber mehr in Teil Zwei.
Einen schmalem Zugang gab es dann doch, und zwar jenen aus der heute so schmerzlich vermissten Stadionkneipe. Ganz zeitige Kneipengänger fanden sich ab und an unverhofft auf der Tribüne und somit im Stadion wieder. Ohne Karte vielleicht, aber sicher mit Fahne. Das Pendant zu diesem schmalen Zugang auf der anderen Seite der Tribüne war der zur Geschäftsstelle und für die Presse. Die Journalisten übrigens hatten Arbeitsplätze, deren Beinfreiheit es nicht einmal in die Holzklasse einer Billigfluggesellschaft geschafft hätte. Dafür durften sie aber auf einer Tribüne arbeiten, die bei Eröffnung als die modernste und innovativste ihrer Art gefeiert wurde. Es war also eine Ehre, dort zu arbeiten. Auch wenn das dann beruflich auf dem Rasen erlebte nicht immer wirklich innovativ war. Ziemlich gegen Ende ihrer Zeit bekam die Tribüne auf dem mittleren Treppenaufgang auf etwa vierzig Stufen die Meilensteine und Erfolge von Rot-Weiss Essen aufgeklebt. Eine schöne Idee. Und immer der Verweis darauf, wer wir wenigstens mal waren. Zukünftige Erfolge werden dann auf der neuen „Haupt“ verewigt.
Unser geistiges Auge blickt nun aber nach oben und sieht dort eine wunderbare, trägerfreie Konstruktion, welche sich über die gesamte Breite der Haupttribüne erstreckt und siebzehn Meter nach vorne ragt. Trägerfrei errichtet im Jahre 1956: Das kann nur ein Kind, beziehungsweise Dach des Wirtschaftswunders sein. Oder einfacher gesagt: Eine architektonische Meisterleistung. Schließlich wurden bis dato die meisten Tribünendächer noch mit Sichtbehinderung in Form von Stützpfeilern oder ähnlichen Trägervorrichtungen gebaut. Und sicher nicht in einer solchen Dimension. Leider nagte der Zahn der Zeit natürlich auch an diesem Dach und die Tribüne wäre spätestens 2016 aus Sicherheitsgründen endgültig und komplett gesperrt worden, da sich vermehrt kleine Betonteile lösten und eine größere Gefahr für die Zuschauer darstellten als manch Spieler, Trainer oder Verantwortliche. Mehrere Gutachten bestätigten diesen traurigen Fakt. Also den der baulichen Substanz.
An diesem Dach befestigt Lautsprecher, die taten, was Lautsprecher an der Hafenstraße tun mussten: Den Opa anspielen und mit den ersten Takten von „Adiole“ die Mannschaft und Tore ankündigen. Danach war die schlechte Tonqualität nicht mehr wichtig, die Fans zeichneten direkt für den weiteren Gesang verantwortlich. Und die Torschützen für die gegnerische Mannschaft, die wollte man schließlich wirklich nicht hören. Sehr interessant auch die Seitenverkleidung der Haupttribüne: Die Tribünenseite zur Hafenstraße war weniger verkleidet als ihr Gegenstück Richtung „West“. Vielleicht stiegen die Glaspreise während der Bauarbeiten, wehte der Wind aus Richtung Westen stärker oder gab es einen anderen triftigen Grund für diese Unregelmässigkeit.
Wie dem auch sei: Diese Tribüne war einzigartig, ist in Worten eigentlich kaum zu beschreiben und war das Herzstück unseres Vereines. Sie war aber auch der Grund für die späteren, ständigen wirtschaftlichen Probleme an der Hafenstraße 97a. Auch das leider Fakt. Lange haben wir Fans den Stadionneubau gefordert, aber ich glaube, wir haben seinerzeit völlig ausgeklammert, dass auch unsere geliebte „Haupt“ einem dringend erforderlichen Neubau zum Opfer fallen wird. Mir ging es jedenfalls so. Aber auch dann gab es noch Fans, die sich ihrerseits direkt für den Erhalt der Tribüne engagierten und versuchten, diese unter Denkmalschutz stellen zu lassen. Ziel war, die Räumlichkeiten weiter vielfältig zu nutzen. Das es nicht zu Denkmalschutz reichte, sehen wir bei jedem Heimspiel. Und vielleicht ist es auch gut so, dass Andenken stets zu bewahren, anstatt eines Tages festzustellen, dass es inhaltlich und finanziell doch nicht gereicht hätte, diese Tribüne weiter mit Leben zu füllen.
Umso schöner, dass es die Initiative immer noch gibt, dass es Fans gibt, die sich darum bemühen, unsere Identität zu bewahren. Danke dafür!
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