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Der Hundertfünfundzwanzigste Geburtstag.

Spricht man von Rot-Weiss Essen, landet man unweigerlich nach kurzer Zeit auch bei Georg Melches. Sieht man Fotos aus aus der erfolgreichen Zeit rund um Meisterschaft und Pokalsieg, kommt man auch nicht an Georg Melches vorbei. Unweit der Spieler ist immer irgendwo auch der Patron mit im Bilde. Optisch erinnert der Georg Melches dieser Zeit an eine Mischung aus Heinz Erhardt und meinem Opa. Nun kennen Sie natürlich meinen Opa nicht, aber stellen Sie sich ihn optisch in etwa so wie Georg Melches oder Heinz Erhardt vor. Und mit Zigarre. Allen drei gleich aber ihre sympathische, ein wenig listige Ausstrahlung.

Zurück aber zu Georg Melches: Geboren am 24. August im Essener Norden als Sohn eines Betriebsführers, der auf der Zeche Emil – Emscher in Lohn und Brot stand. Die schulische Laufbahn des jungen Georg Melches fand eigentlich auch schon im Dunstkreis der Hafenstraße statt: Volksschule Vogelheim; Gymnasium Borbeck und Realgymnasium Altenessen. Der nächste Schritt war dann sicher kein leichter und definitiv kein schöner, denn Georg Melches zog in den ersten Weltkrieg. Dies übrigens freiwillig. Und es dauerte vier lange Jahre, bis er wieder unversehrt nach Hause kam. Vier lange Jahre in den Kriegswirren unterwegs, seine Familie zurücklassend.

Und auch die Familie, die er mit anderen bereits am ersten Februar 1907 in Essen Vogelheim gründete: Georg Melches war bereits in jungen Jahren ein begeisterter Liebhaber der Fußlümmelei, wie der Fußball seinerzeit oftmals despektierlich genannt wurde. Und weil er so begeistert war, gründete Georg Melches mit seinen Freunden einen Fusionsverein. Denn sie führten die bestehenden Vereine SC Preußen und Deutsche Eiche zum SV Vogelheim zusammen. Deutsche Eiche, ein an sich schon recht merkwürdiger Vereinsname und sicher eine Herausforderung für Fangesänge. Aber das nur am Rande erwähnt. Den heutigen Namen Rot-Weiss Essen bekam der Verein dann fünf Jahre nach dem ersten Weltkrieg mit auf seinem weiteren Vereinsweg. Anteil daran hatte eine weitere Fusion, diesmal mit dem Turnerbund Bergeborbeck.

Drei Jahre zuvor, also 1920, begann neben dem Hobby Fußball auch der berufliche Ernst des Lebens: Nach zwei Praktika in Schacht und Kokerei öffnete der Betrieb „Koksofen und Gasverwertung AG“ Essen seine Tore für den ehrgeizigen Georg Melches. Dort brachte er es innerhalb acht Jahren auf den Stuhl des Direktors, den er die nächsten zehn Jahre nicht verließ. Also im übertragenen Sinne jetzt. 1938 schien auch beruflich eine Fusion den Firmennamen zu verändern: Aus „Didier – Kogag“ wurde Didier – Kogag – Hinselmann. Der Direktor fusionierte nicht, nahm höchstens zu und hieß bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1959 weiter Georg Melches. Insgesamt also einunddreißig Jahre als Direktor bedeuteten auch einunddreißig Jahre Kontakte in die Spitzen von Wirtschaft und Politik. Heute würde man Netzwerk dazu sagen.

Georg Melches konnte seinen Spielern Arbeitsplätze verschaffen, an denen nicht viel geschafft werden musste, sondern sich auf das Kicken konzentriert werden konnte. Auch die legendäre Südamerikareise wurde nur durch die weltumspannenden Kontakte von Direktor und Firma ermöglicht. Der Macher der er war, zeigte sich auch in seinem Verein stets in der Pflicht. Georg Macher. Im Verein, für den zu Beginn fast nur Schüler, Bergleute und Zechenangestellte gegen die handgenähte Kugel traten, besetzte er die Positionen des Mittelstürmers und mit nachlassender Kondition die eines Verteidigers. 1927 hing er seine Fußballschuhe an den Nagel. Was nicht bedeutete, dass er sich nun aus dem Vereinsleben verabschiedete. Mitnichten und gänzlich ohne Neffen, denn administrativ war Georg Melches natürlich auch schon länger in seinem Verein tätig: Schriftführer, Geschäftsführer, Fußballobmann, Finanzobmann.

Nahezu die ganze Palette dessen, was ein Verein an Ehrenamt zu bieten hat, wurde von ihm parallel oder nacheinander ausgeführt. Rot-Weiss Essen war Georg Melches und Georg Melches war Rot-Weiss Essen. Das wirklich interessante aber ist die Tatsache, dass er nicht einen Tag als Vereinsvorsitzender fungierte. Vielleicht benötigte er den Vereinsvorsitz auf dem Papier auch deshalb nicht, da er wusste, stets auch so dem Verein vorzustehen. Um aber seine Leistung schon recht früh zu würdigen, ernannte der Verein seinen „Patron“ bereits 1950 zum Ehrenvorsitzenden auf Lebenszeit mit Sitz und Stimme im Vorstand. Und dieser Ehrenvorsitzende sollte ja bekanntlich noch mit tollen Erfolgen für seine Pionierarbeit und Engagement im Essener Norden belohnt werden.

Auflagenmeister & Zwangsabstiegsweltbester

Es ist nicht das, woran Sie jetzt denken: Rot-Weiss Essen hat natürlich kein Problem mit bewusstseinserweiternden Substanzen und musste diesbezüglich desöfteren einen Entzug antreten. Rot-Weiss Essen hatte seit dem Ende der Ära Georg Melches und irgendwie auch mit Inbetriebnahme der Haupttribüne stets ein monetäres Problem. Spielerverkäufe stopften immer mal wieder die dringendsten Löcher, zumeist auf Kosten des sportlichen Erfolges.

Der Rote Kontostand zog sich wie ein roter Faden durch viele Jahre der Roten. Alles immer ganz eng auf Kante gestrickt. Und dann kam es öfter als bei anderen Vereinen so, wie es unweigerlich kommen musste (Ich habe mich nun nicht durch die Lizenzhistorie alle anderen Vereine gearbeitet; ich behaupte das jetzt einfach mal so)! Als Verein kannst Du eigentlich nur auf drei Arten absteigen oder während einer laufenden Saison um sportlich erkämpfte Punkte gebracht werden:

1.Du steigst sportlich ab. 2. Schalke manipuliert mal wieder alles und jeden und 3. Der DFB entzieht Dir die Lizenz oder manch wichtigen Punkt. Oder abwechselnd Punkt und Lizenz im Paket. Obendrauf dann noch den Abstieg als Extraprämie. Und natürlich gibt Dir der Deutsche Fußball Bund dann für die darauffolgende Saison auch noch mehr Auflagen mit, als jede Hotelkette auf Mallorca in ihrem Bestand hat.

Soweit also die Szenarien, die Rot-Weiss Essen als treu ergebenes Verbandsmitglied immer mal wieder in Anspruch genommen hat. Seit den achtziger Jahren haben wir uns den Entzugsmeistertitel mit folgenden Leistungen redlich verdient. Aus Platzgründen nachfolgend lediglich die wichtigsten „Titel“ der Zeitleiste. Denn eigentlich sind alle Monate davor und auch danach geprägt von wirtschaftlichem Überlebenskampf. Es ging gelegentlich auf der imaginären Uhr bis kurz vor Zwölf, so dass bangende Fans immer mal Kerzen als Symbol der Hoffnung am Georg Melches Stadion anzündeten. Es heisst wohl nicht umsonst auch „Gott schütze Rot-Weiss Essen“. Eigentlich war es eher stets Viertel nach!

Wirtschaftliche Probleme in der Saison 1983/84 zwangen den Verein dazu, den Essener Jungen und  Borbecker Kobra Jürgen Wegmann an den Reviernachbarn Borussia Dortmund abzugeben. Was aufgrund seiner Torquote dem sportlichen Tafelsilber gleichkam. Die Saison 1990/91 brachte dann endlich den Lizenzentzug. Lange genug hatte man schließlich darauf hingearbeitet. Zudem brachte der Verstoß gegen die Lizenzbedingungen auch gleich einen Zwangsabstieg mit sich.

Wieder über den grünen Rasen sportlich hochgearbeitet; zudem einmal verdient die nördlichen Nachbarn im DFB Pokal ausgekontert, folgte schon 1993/94 der nächste Lizenzentzug inklusive Zwangsabstieg. Diesmal wurden die Lizenzunterlagen gefälscht. Nach dem Motto „Nimm 3 für 2“ gab es noch obendrauf, dass alle Spiele der Saison nur für den Gegner gewertet wurden. Dem RWE selbst waren keine Punkte mehr vergönnt. Und doch schafften es die Mannen um Jürgen Röber bis in das unvergessene DFB Pokalfinale am 14.Mai 1994 in Berlin und wurden gegen Werder Bremen von allen gefeiert. Nicht gefeiert hingegen der DFB. Zu hart die damalige Entscheidung gegen einen Verein, der schon zu Saisonbeginn mit schwerem Auflagengepäck bedacht wurde. Aber auch diese Phase überstand der Verein. Nicht zuletzt einfach nur durch die unglaubliche Treue seiner Fans.

Als nächstes folgte die Phase Kinowelt, die dem RWE keine Blockbuster, sehr wohl aber fast die Insolvenz einbrachte. Auch hier wieder ein monatelanger Kampf gegen das Aus unseres Vereins. Kerzen. Es dauerte bis kurz nach der Jahrtausendwende, als auch der DFB endlich wieder sein gütiges und wachsames Auge auf sein schwarzes Schaf Rot-Weiss Essen warf. Verstoß gegen die Lizenzauflagen für die Saison 2001/02 heuer der Vorwurf und schwups, war wieder mal ein Punkt weg. Danach pendelte es sich sportlich zwischen zweiter Bundesliga und Drittklassigkeit, bis das Lübeck Desaster und der damit verbundene Absturz in die Viertklassigkeit das klamme Finanzkartenhaus erneut zusammenkrachen liess.

Man schleppte sich bis 2010 durch, doch dann war Schluss: Rot-Weiss Essen drohte wieder mal der Lizenzentzug. Da auch die Stadt Essen eine erforderliche Liquiditätsreserve nicht zur Verfügung stellen konnte oder wollte; musste die Vereinsführung einen Antrag beim DFB auf Auszahlung einer Bürgschaft in Höhe von 2,7 Millionen Euro stellen. Gerade dort. Aber auch der DFB verweigerte sich und der RWE konnte diese Summe natürlich auch nicht aufbringen. Da konnten selbst Willi Lippens und Manni Burgmüller in teilweise an Übersprungshandlungen erinnernde Spendenläufe nicht retten, was nicht mehr zu retten war. Es blieb keine Alternative mehr: Der Vorstand von Rot-Weiss Essen meldete Anfang Juni 2010 Insolvenz an. Und keiner wusste in den darauffolgenden Tagen und Wochen, ob unser geliebter Verein überlebt, oder sogar aus dem Vereinsregster gelöscht wird. Verzweiflung, Wut und Trauer bei den Fans, denen der Verlust eines großen Stück Lebens drohte.

Nun wissen wir heute, dass es nicht dazu kam, sondern der Insolvenz ein weiterer Zwangsabstieg folgte und damit die Nordrhein Westfalen Liga das neue sportliche Zuhause sein sollte. Fünfte Klasse, aber überlebt. Es soll das Finanzgebaren so vieler Jahre an der Hafenstraße nicht entschuldigen, aber auch der DFB sollte und muß sich in seinem Strafenkatalog durchaus hinterfragen lassen, ob er nicht manches Mal mit zweierlei Maß misst. Andere Vereine türmen derart hohe Schuldenberge auf, so dass die Titanic unter der Last auch schon vor dem Eisberg untergegangen wäre, und manch kleinem Verein ohne Lobby wird hingegen schon mal recht schnell der Lappen entzogen. Aber wir möchten den weltgrössten Verband auch nicht mit unseren vergangenen Vereinsbefindlichkeiten nerven, dort hat man dieser Tage genug mit sich selbst zu kämpfen. Wie heisst es doch so schön im Volksmund: „Unter jedem Dach ist auch ein Ach!“

Dem Karl seine Bandage.

Interne Fortbildung. Trockenes Thema. Zeit also, sich mit Kollege und Nebenmann, nachstehend Karl genannt, über Fußball zu unterhalten. Karl weiss, das ich RWE Fan bin, und ich weiss, dass Karl in seiner Jugend und darüber hinaus ein ziemlich guter Spieler bei Vorwärts Gronau war. Mit Schnäuzer und Kapitänsbinde. Da die Fortbildung nicht wirklich auf einen spannenden Höhepunkt zusteuerte, kam Karl mit weiteren Fakten über den Tisch: Zum 75jährigen Vereinsjubiläum seines Vereins kam die Uwe Seeler Prominentenelf am 29. Juni 1985 zu einem Freundschaftsspiel in den Stadtpark Gronau.

Das ja nun eine tolle Geschichte und Erinnerung für Karl, aber noch nicht in Rot und Weiss getüncht. Die Fortbildung plätscherte also weiter dahin; die versprochenen Brötchen noch nicht geliefert, da kam Karl mit jener Informationen über den Tisch, die mich nun gänzlich von den Fakten auf der Leinwand abhielten: „Übrigens hat Willi Lippens noch eine Kniebandage von mir“. Volltreffer! Das vorliegende Fortbildungspapier wurde umgedreht, der Kulli gezückt und die wesentlich wichtigeren Fakten notiert: Es war also Halbzeit, damals im Spiel des SV Vorwärts Gronau gegen die Prominentenelf von „Uns Uwe“ Seeler. Und was war? Willi Lippens hatte Knieprobleme! Aber leider keine Bandage mit im Gepäck. Überhaupt hatte keiner der Prominenten eine Kniebandage mit. Auch Helmut Rahn nicht. Ja, der Helmut Rahn. Unser aller Boss. Auch er spielte dieses Spiel. Gänsepelle und Hühnerhaut.

Aber zurück zu der Knieproblematik größeren Ausmaßes: Willi Lippens war schon immer ein gewiefter Zeitgenosse und wusste sich stets zu helfen. Marschierte also schnurstracks in die Kabine der Gronauer und fragte dort nach der heilbringenden Bandage. Man ahnt, was kommt: Karl, schon seinerzeit dem diakonischen Gedanken verfallen, opferte seine Kniebandage für Willi Lippens, damit dieser weiter durch den Sportplatz Stadtpark Gronau watscheln und für den Boss auflegen konnte. Oder für Uwe Seeler. Oder die beiden ihm. Man weiss es so genau nicht mehr. Was Karl aber auch noch dreissig Jahre danach weiss, kommt einem Skandal gleich: Willi Lippens hat die Kniebandage nach dem Spiel nicht zurückgegeben! Nachdem Karl fast ein Vierteljahrhundert versucht hat, seine Kniebandage wiederzuerlangen, ist er heute drüber hinweg. Leider aber auch kein RWE Fan geworden. Was sicherlich nicht an dieser Anekdote liegen mag.

Unser Boss weilte übrigens durchaus noch öfter in Gronau, was definitiv mit seinem Engagement als Spieler bei Twente Enschede zu tun hatte. Solch Geschichten vergisst Du nie. Und die Brötchen, die kamen auch noch. Danke Karl!